26th September 2021

Wenn ich Deutsch spreche, bin ich kurz-knapp-kernig

Andrei Averin arbeitet als Business Intelligence Architect bei Mindshare in Frankfurt. Der 39-Jährige unterstützt Kunden bei der Automatisierung von Prozessen. Andreis Muttersprache ist Russisch. Zum europäischen Tag der Sprachen haben wir mit ihm über das Thema Sprache und Mehrsprachigkeit gesprochen.

Andrei, wie viele Sprachen sprichst du?
Meine Muttersprache ist Russisch. Englisch war meine erste Fremdsprache. Deutsch habe ich erst in Deutschland gut gelernt.

Welche Rolle spielt Sprache in deinem Arbeitsalltag?
Die Sprache ist mein wichtigstes Kommunikationsmittel.

Was bedeutet Sprache für dich persönlich? Wie erlebst du deine Mehrsprachigkeit?
Die Sprache ist Teil der Persönlichkeit. Wenn man die Sprache wechselt, verändert man sich als Person radikal. Wenn ich Deutsch spreche, bin ich direkt, zuvorkommend, äußerst präzise in der Formulierung, kurz-knapp-kernig – und langweilig. Wenn ich mit meinen Kollegen Englisch spreche, bin ich demokratisch, frei im Sprachgebrauch und muss mich nicht um perfekte Grammatik kümmern, denn die Norm des Englischen ist sehr weit gefasst. Russisch ist eine Sprache für besondere Situationen, normalerweise zwischen meinen Leuten.

Bei Mindshare arbeiten Menschen aus vielen verschiedenen Nationen. Wie erlebst du diese Vielfalt an Menschen und Kulturen?
Das vielfache Aufeinandertreffen von Sprachen und Kulturen erzeugt die notwendige innere Bewegung, so wie kollidierende Moleküle Wärme erzeugen. Nach meiner Meinung zeichnet sich die deutsche Kultur durch strenge Organisation, Abläufe und Präzision aus, lässt aber Kreativität vermissen (Ausnahmen widerlegen diese These nicht). Wenn die Dinge nicht nach Plan laufen, verfallen die Deutschen in Absprachen und Meetings, was die Entscheidungszeit erheblich verlängert.

Die russische Kultur ist chaotisch, aber es gibt Kreativität und die Fähigkeit, in kurzer Zeit revolutionäre Lösungen zu schaffen, wofür es in der Geschichte zahlreiche Beispiele gibt. Durch das Aufeinandertreffen von solch kreativen und prozessorientierten Kulturen entstehen oft positive Synergien: einerseits schnell und individuell Dinge erfinden zu können und gleichzeitig Veränderungen innerhalb eines stabilen Systems umzusetzen.

Sprache ist immer auch Ausdruck von Kultur. Gibt es etwas, das du durch die Beschäftigung mit Sprache über eine bestimmte Kultur – zum Beispiel die deutsche – gelernt hast?
Sprachen können sowohl kontextreich als auch kontextarm sein. Deutsch ist kontextarm und dient der Informationsvermittlung und nicht der Vermittlung von Kontext. Das bedeutet: Die Deutschen denken, was sie sagen, und sagen, was sie denken. Im Deutschen hat jedes Wort eine Funktion. Wenn daher Wörter aus einem Text herausgenommen werden, kann der Inhalt verzerrt werden oder ganz verloren gehen.

Russisch ist im Gegensatz zum Deutschen eine sehr kontextbezogene Sprache. Einerseits führt dies zu einem hohen Maß an Redundanz. Die gleiche Informationsmenge wird im Deutschen mit weniger Worten vermittelt. Aber wenn etwas fehlt, ist es möglich, den Inhalt des Textes zu rekonstruieren, ohne an Präzision zu verlieren. Andererseits gibt es viele Kontextebenen. Die erste Ebene: das, was gesagt wird. Zweite Ebene: was gemeint war. Die dritte Ebene: was die Person erreichen wollte. Diese drei Ebenen können unabhängig voneinander sein. Dieselbe Botschaft kann je nach Zweck unterschiedlich formuliert werden. Werden diese Kontextebenen nicht verstanden, ist das oft der Grund für Missverständnisse zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen.

Gibt es ein Wort in deiner Muttersprache, das sich nicht oder nur schwer ins Deutsche oder Englische übersetzen lässt?
«Авось» (avos'): ein blinder Glaube daran, dass die Dinge gut gehen werden. Es steht für die optimistische Hoffnung, dass das Glück auf deiner Seite sein wird.

Was empfiehlst du anderen aufgrund deiner Erfahrungen mit Sprachen und Mehrsprachigkeit?
Meine Empfehlung ist es, so viele Sprachen wie möglich zu lernen. In der heutigen hyperdynamischen Informationsgesellschaft kann jeder das subjektive Zeitempfinden verlängern und dabei helfen Fremdsprachen sehr.

Inwiefern können Fremdsprachen das Zeitempfinden verlängern? Kaum jemand würde mir widersprechen, dass die Geschwindigkeit der Informationsübertragung in der modernen Gesellschaft sehr hoch ist. Dies führt zu einer erhöhten Konzentration von Ereignissen pro Zeiteinheit. So geschehen heute Dinge in einer Woche, die vor 20 Jahren noch über mehrere Monate verteilt waren. Infolgedessen entwickeln viele Menschen ein Gefühl für die Vergänglichkeit der Zeit und ein Bedürfnis, den gegenwärtigen Moment intensiver zu erleben. Um dies zu erreichen, begeben sich die Menschen auf Reisen. Wenn man an den Arbeitsplatz zurückkehrt, hat man den Eindruck, dass für die Kollegen die Woche wie im Flug vergangen ist.

Für den Urlauber ist ganz viel passiert, weil er sich für die Dauer des Urlaubs aus dem Informationsfluss herausgerissen hat und jeden Augenblick intensiver erlebt hat. In diesem Zusammenhang sind Fremdsprachen eine weitere Möglichkeit, jeden Moment auf eine andere Art zu erleben. Wenn man mit Menschen einer anderen Sprache und Kultur kommuniziert, taucht man in eine andere Umgebung ein. Das Zeitempfinden wird verlängert.

*Die O-Töne der Interviewpartner werden nicht verändert im Zuge unserer eigentlichen geschlechterneutralen Sprache.

Mindshare Germany
    Mindshare Germany